Position zur Debatte um Wehrpflicht und KDV vor dem Hintergrund der Aggression Russlands

Antrag an den Landesparteitag Die Linke Bremen

Antragstellerin: LAG Internationalismus – Linke Außen- und Sicherheitspolitik

 

 

„Der Offensivkrieg ist der Krieg eines Tyrannen; wer sich jedoch verteidigt, ist im Recht.“
Voltaire

 

 

Der Landesparteitag möge beschließen:

 

Position zur Debatte um Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung vor dem Hintergrund der Aggression Russlands

 

Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Ende Februar 2022 und durch die zwei Jahre später erfolgte Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten haben sich die Koordinaten europäischer Außenpolitik grundlegend verschoben. Europa wird derzeit in Ost und West von zwei autoritären Flügelmächten umfasst, deren Regenten Trump und Putin sich jederzeit auf seine Kosten verständigen und den Kontinent im Zeichen einer „multipolaren Ordnung“ untereinander in „Interessensphären“ aufteilen können. Parallel hierzu werden die europäischen Staaten von innen durch rechtsautoritäre und neofaschistische Parteien und Bewegungen unter Druck gesetzt, die sich der Unterstützung durch Trump und Putin sicher sein können. Auf diese neuen politischen Konstellationen, die an die Stelle des alten Ost-West-Gegensatzes des Kalten Krieges getreten sind, muss die Linkspartei eine Antwort finden.

 

1. Die Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine ist Ausdruck einer revisionistischen Politik, mit der das Putin-Regime den „postsowjetischen Raum“ im Namen einer imaginären „Russischen Welt“ unter seine imperiale Kontrolle zu bringen versucht.

Seine vor allem im Westen vorgetragene Begründung für den Angriff auf das Nachbarland, es sei „Opfer“ der NATO-Osterweiterung geworden und würde sich nur der westlichen Hegemonie entgegenstellen, ist als Schutzbehauptung zurückzuweisen. Die tatsächliche völkisch-nationalistische Zielsetzung dieses Krieges verdeutlichen die Äußerungen Putins über die angebliche „historische Einheit von Russen und Ukrainern“ vom Juli 2021 und seine sonstigen geschichtspolitischen Äußerungen, in denen der Ukraine explizit das Recht auf nationale Selbstbestimmung und staatliche Souveränität abgesprochen und ihr allenfalls ein Status als Satellitenstaat (wie beispielsweise Belarus) innerhalb eines großrussischen Imperiums zugestanden wird.

 

2. Der russische Krieg gegen die Ukraine richtet sich nur vordergründig gegen deren aktuelle Regierung unter Wolodymyr Selenskyj. Er ist vielmehr ein Angriff auf das nationale Selbstverständnis der Ukrainer:innen, ihre Sprache, ihre Kultur und auf ihr Recht, ein eigenes politisches Gemeinwesen zu bilden.

Dies wird nicht nur in den geschichtspolitischen Äußerungen Putins deutlich, sondern auch in offiziellen und offiziösen Erklärungen wie dem RIA-Nowosti-Kommentar vom 3. April 2022, in dem ganz offen die „Entukrainisierung der Ukraine“ als Kriegsziel formuliert wird. Entsprechend gestaltet sich die Praxis in den russisch besetzten Gebieten: Die Bevölkerung wird in Filtrationslagern ausgesondert, Kinder werden zwecks „Umerziehung“ verschleppt und ukrainisches Kulturgut sowie Erinnerungsorte ukrainischer Geschichte werden systematisch zerstört. Diese Maßnahmen knüpfen nahtlos an die Russifizierungspolitik des zaristischen Regimes an, das u.a. von 1863 bis 1905 den schriftlichen Gebrauch der ukrainischen Sprache unter Strafe stellte. Als politisches Gemeinwesen verfügt die Ukraine mit den freien Gemeinschaften der Saporoger Kosaken bis 1775, der revolutionären Rada von 1917-1920 und der anarchistischen Machno-Bewegung 1917-1922 über eigene revolutionäre und demokratische Traditionen.

 

3. Eine Grundlage linker Außen- und Friedenspolitik ist universalistisches Völkerrecht, wie es in der UN-Charta und in der Schlussakte der KSZE von 1975 formuliert wurde.

Neben der Garantie territorialer Integrität und staatlicher Souveränität, dem Gewaltverbot und der Achtung der Menschenrechte gilt auch die Gleichheit aller Völkerrechtssubjekte im internationalen Verkehr. Diese normativen Gebote erfahren in der Praxis erhebliche Einschränkungen, aber sie beanspruchen Geltung und sind als kritischer Maßstab für die Bewertung internationaler Verhältnisse aus unserer Sicht unverzichtbar. Versuche von Großmächten, für sich ein „nahes Ausland“, „Einflusssphären“ oder „Zonen privilegierter Interessen“ zu konstruieren, sind mit diesen normativen Geboten unvereinbar.
Sie widersprechen dem nationalen Selbstbestimmungsrecht, der staatlichen Souveränität und der völkerrechtlichen Gleichheit aller Völkerrechtssubjekte. Sie sind gegen den Willen der Betroffenen auch nur mit Gewalt durchsetzbar. Deshalb betrachten wir Bestrebungen hin zu einer „multipolaren Welt“ kritisch, sofern diese danach trachten, das universal geltende Völkerrecht auszuhebeln und den Großmächten (USA, Russland, China) exklusive „Einflusssphären“ zuzubilligen, die einem „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (Carl Schmitt) unterliegen.
Die öffentlich geäußerten Ambitionen Donald Trumps, sich fremde Territorien wie Kanada oder Grönland einzuverleiben, und seine Bemühungen, mit Putin über die Köpfe der Beteiligten hinweg ein „Arrangement“ über die Ukraine zu treffen, lassen Befürchtungen nicht unbegründet erscheinen, dass der europäische Kontinent zur geopolitischen Verteilungsmasse in einer von den USA, China und Russland dominierten „multipolaren Welt“ werden könnte, was einer auf Demokratie und Selbstbestimmung abzielenden europäischen Politik widersprechen würde.

 

4. Der von uns angestrebte Frieden muss die Souveränität der Ukraine garantieren und die Möglichkeit eines erneuten Angriffs auf sie und auf andere frühere Sowjetrepubliken oder Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes ausschließen.

Friedenspolitik kann nicht bedeuten, dass ein angegriffener Staat die ihm unter Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung aufgezwungenen Forderungen zu erfüllen hat. Ein solcher „Frieden“ würde Gewalt als politisches Mittel akzeptieren und ihren Einsatz nachträglich belohnen.

 

5. Das Putin-Regime stellt sich im Bündnis mit rechtsautoritären und neofaschistischen europäischen Parteien wie der AfD in Deutschland, dem Rassemblement National in Frankreich und der FPÖ in Österreich als reaktionärer Gegenentwurf zu allen emanzipatorischen Bestrebungen dar, die seit der Französischen Revolution von 1789 zum festen Bestandteil linker Grundüberzeugungen gehören.

Die Achtung der Menschenrechte und partizipative Formen der Demokratie als Voraussetzungen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung werden vom Putin-Regime und seinen rechtsextremen europäischen Bündnispartnern als Dekadenzphänomene diskreditiert und verächtlich gemacht.

 

6. Jedes politische Gemeinwesen hat das Recht, sich gegen von außen ausgeübte oder angedrohte Gewalt zu verteidigen und dafür die Hilfe und Unterstützung anderer Staaten in Anspruch zu nehmen.

Dem hier anzuwendenden Prinzip der kollektiven Sicherheit liegt die Idee zugrunde, dass der Angriff eines Aggressors auf ein Land als Angriff auf alle zu werten ist. Hilfe und Unterstützung kann vielfältig gewährt werden: als diplomatischer Support, in Form von Finanzhilfen, Sanktionen gegen den Aggressor, aber auch Waffenlieferungen an den angegriffenen Staat und/oder eine Kombination einiger oder mehrerer dieser Elemente, wobei die Verhältnismäßigkeit der Mittel und politische Opportunitäten zu beachten sind.

Die Entscheidung eines politischen Gemeinwesens, sich gegen die Gewaltanwendung eines Aggressors zu verteidigen (oder sich ihm unter welchen Bedingungen auch immer zu unterwerfen), unterliegt allein dem angegriffenen politischem Kollektivsubjekt auf der Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Denn es sind seine Bewohner:innen, welche allein die menschlichen und materiellen Kosten entweder einer Verteidigung oder einer Unterwerfung unter den Willen des Aggressors zu tragen haben. „Wohlmeinende Ratschläge“ oder Forderungen von Außenstehenden, entweder den Kampf gegen besseres Wissen und Gewissen fortzusetzen, oder sich umgekehrt „um des lieben Friedens willen“ der Militärmacht des Aggressors zu beugen, sind unstatthaft. Der Wille zur Verteidigung, die möglicherweise entgegenstehende Bereitschaft zur Unterwerfung oder der Abschluss eines „Kompromissfriedens“ sind politische Entscheidungen, welche die politischen Mandatsträger des betroffenen politischen Gemeinwesens zu treffen und gegenüber ihrer Bevölkerung politisch zu verantworten haben.

 

7. So kritisch unsere Haltung gegenüber der ukrainischen Regierung auch sein mag, die Ukraine führt einen gerechten – defensiven, antikolonialen, befreienden – Krieg.

Daraus ergibt sich die Forderung nach umfassender Unterstützung der Ukraine, vor allem durch Deutschland, das jahrzehntelang enorme wirtschaftliche Vorteile aus der Zusammenarbeit mit dem Putin-Regime gezogen hat. Die Unzulänglichkeit dieser Hilfe und die Verzögerung bei ihrer Bereitstellung haben zur Verlängerung des Krieges und zur aktuellen Krise der ukrainischen Verteidigung geführt.

 

8. Unabhängig vom kollektiven Recht eines politischen Gemeinwesens, sich gegen äußere Angriffe zu verteidigen, gibt es das individuelle Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Niemand darf gezwungen werden, auf andere Menschen zu schießen, auch wenn diese Handlung der Verteidigung des eigenen politischen Gemeinwesens dienen soll. Deserteuren, die sich dem Dienst an der Waffe entziehen und deswegen Schutz vor Bestrafung im Ausland suchen, ist politisches Asyl zu gewähren.

So verdient beispielsweise die Verweigerung des Militärdienstes in Russland volle Solidarität – sowohl aus moralischer als auch aus politischer Perspektive. Ukrainische Wehrdienstverweigerer und Deserteure verdienen ebenso Unterstützung. Eine Heroisierung ihres Handelns als „antikriegskämpferischer Widerstand“ wäre jedoch ein Fehler, da die ukrainische Gesellschaft sich gegen eine Invasion verteidigt, während Russland einen Angriffskrieg führt.

Individuelle Gewissensentscheidungen können jedoch nicht den politischen Willen eines Gemeinwesens binden, auf die Landesverteidigung gegen einen Aggressor grundsätzlich zu verzichten.

 

9. Jedes politische Gemeinwesen hat das Recht sich zu verteidigen. Die Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Verteidigungsfähigkeit und eine Verteidigungsbereitschaft. Bei aller Kritik an den Verhältnissen in Deutschland und in der Europäischen Union, wir wollen unsere Gesellschaft, unser politisches Gemeinwesen, unsere Prinzipien von Freiheit und Demokratie, und die erreichten Fortschritte bei Gleichheit und Diversität, Bildung für alle, Solidarität und sozialer Sicherheit für Viele gegen den Faschismus verteidigen.

Was die Fragen nach der Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und der möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland betrifft, möchten wir davor warnen, die Gefahr des Putinismus zu unterschätzen.

 

10. Wenn eine antifaschistische Innenpolitik das Verbot der AfD als der größten Bedrohung für die deutsche Demokratie bedeutet, und eine antifaschistische Wirtschaftspolitik unter anderem präventive Maßnahmen gegen die Konzentration von Macht in den Händen der Oligarchie vorsieht, dann bedeutet eine antifaschistische Außenpolitik, sich jedem Imperialismus entgegenzustellen – sei er amerikanisch, chinesisch oder russisch.

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